Eine Stadtführung durch Odessa mit Edgar Wagner

Ändert man den Text eines bekannten Liedes nur ein wenig, lautet die erste Zeile: „Ich war noch niemals in Odessa.“ So wie mir wird es fast allen Mainzerinnen und Mainzern gehen. Man würde das gerne ändern. Und seit die Städtepartnerschaft Mainz – Odessa näherrückt, wird dieser Wunsch bei dem einen oder anderen auch stärker. Aber es herrscht Krieg und das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in die Ukraine, auch vor Reisen nach Odessa. Aber das wird nicht so bleiben. Während russische Luftschläge ukrainische Städte erschüttern, gibt es auch erste Friedenskonferenzen. Man muss an den Frieden glauben.

Wie heißt es bei Cat Stevens:
Get your bags together
Go bring your good friends too
Because its getting nearer
It soon will be with you
Now come and join the living
Its not so far from you
And its getting nearer
oh, Peace train sounding louder….
Soon it will all be true.

Also lasst uns unsere Sachen packen, damit wir vorbereitet sind und wissen, was uns erwartet. Reiseführer haben wir nicht zur Hand, jedenfalls keine aktuellen. Sie sind derzeit nicht auf dem Markt. Aber es gibt ja das Internet. Und man kann mit Odessiten reden, die in Mainz leben. Das habe ich getan. Daraus ist diese Skizze über die historische Altstadt Odessas entstanden.  Sie soll einen ersten Eindruck von der Schönheit der Stadt vermitteln, aber auch von ihren Nöten in Zeiten des Krieges.

Wir müssen ans Schwarze Meer. Egal wie, mit dem Flugzeug, dem Schiff, der Bahn, dem Bus oder mit dem Auto. Es ist ein langer Weg. Aber er lohnt sich. Diejenigen, die schon da waren,  waren überwältigt. Schon der erste Eindruck sei malerisch, heißt es in alten Reisebeschreibungen. Heute wird man sagen müssen, er wird wieder malerisch sein, wenn die Raketen- und Drohnenangriffe aufgehört haben und die Kriegswunden verheilt sind. Dann wird es wieder die schönste Stadt am Schwarzen Meer sein, die „Perle am Schwarzen Meer“, wie sie auch genannt wird.  Manche – schreibt Ira Peter, die ehemalige Stadtschreiberin von Odessa – nennen sie auch das „Paris des Ostens“, „Palmyra des Südens“, „Hauptstadt des Humors“. „ Bescheiden“,  sagt sie, „sind die Odessiten wirklich nicht. Vermutlich haben sie sich die schmückenden Namen sogar selbst gegeben.“ 

Vielleicht sollte man also etwas näher hinsehen, bevor man sich all den Legenden und Mythen, die mit Odessa verbunden werden, hingibt.

Sehr real ist es, dass die historische Altstadt Odessas im Januar 2023 nach langen Bemühungen von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt und  – im selbst Atemzug – auf die Liste der besonders bedrohten Stätte gesetzt wurde, weil man von Anfang an von Russland das Schlimmste erwartete, das dann ja auch eintraf. Die Altstadt wurde beschossen und von Raketen getroffen, Bewohner wurden getötet und viele der geschützten Gebäude beschädigt oder sogar zerstört. Es sind Angriffe, die auf die kulturelle Identität der Ukraine im Allgemeinen und Odessas im Besonderen zielen. Das muss man wissen, wenn man einen historischen Rundgang durch die Straßen der Altstadt unternimmt und zwischen beeindruckenden historischen Bauwerken auf Trümmer und  verpackte Denkmäler stößt. Dann wird es einem auch bewusst, dass Odessa eine Stadt im Krieg ist.

Man sollte den Rundgang vom Hafen aus beginnen, dem Schicksal der Stadt. Er brachte ihr Wohlstand und Menschen aus allen Herren Länder, die ihre  eigene Kultur und Architektur mitbrachten. Von hier aus wurde seit alters her Getreide in alle Kontinente geliefert. Obwohl 65% des Getreides in Entwicklungsländer ging, wollten die Russen dies mit Drohnen und Raketen verhindern. Seit Beginn des Jahres sind der Hafen und das Meer aber wieder offen. Seither sind vollbeladene Schiffe wieder dorthin unterwegs, wo dringend auf sie gewartet wird. Die russische Schwarzmeerflotte vermag dies nicht mehr zu verhindern.

Oberhalb des Hafens, entlang der steilen Abbruchkante zum Meer, verläuft der 500 Meter lange Prymorskyi Boulevard, die von Bäumen und prachtvollen Gebäuden flankierte Flaniermeile der Stadt. Sie ist einer der ältesten Straßen der Stadt und zugleich eine der beliebtesten, weil sie den Blick auf das Meer und den Hafen freigibt. Hier steht auch das erste Hotel, das 1827 in der Stadt gebaut worden war, das „Londonskaya“.

Die Einrichtung spiegelt die alte Tradition und die Gästeliste Sternstunden der vergangenen 200 Jahre: Mark Twain, Isadora Duncen, Paulo Coelho, Sergei Eisenstein, Macello Mastroianni, um nur ein paar Namen zu nennen.

Seit 1840 erreicht man den Boulevard über eine 142 Meter lange monumentale Freitreppe mit 192 Stufen und zehn Absätzen. Es ist der Hauptzugang, das prachtvolle Entree zur Stadt und zugleich ein Spiel mit den Perspektiven. Von unten betrachtet, sieht man nur die Stufen und keine Absätze, von oben nur die Treppenabsätze ohne Stufen. Da die Treppe unten viel breiter ist als oben, wirkt die Treppe viel länger, als sie tatsächlich ist. Fast scheint sie über der Stadt im Himmel zu enden. Aber das ist eine optische Täuschung.

Ganz real ist es, dass hier bereits während der osmanischen Herrschaft eine aus Muschelkalk gebaute Treppe die alte Festung mit der Schwarzmeerküste verband. Die neue Treppe wurde zu einem Wahrzeichen der Stadt und Odessa zur „Stadt mit der Treppe“. Aber ihren heutigen Namen – Potemkinsche Treppe  – erhielt sie erst 115 Jahre nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1955 und zwar anlässlich des 50. Jahrestags der Meuterei auf dem russischen Schlachtschiff „Fürst Potemkin“, in dessen Verlauf ein Matrose des im Hafen von Odessa liegen Schiffes getötet und am Fuß der Treppe aufgebahrt wurde. Es war der Anführer des Aufstandes. Der Filmemacher Sergij Eisenstein hat der Treppe in seinem Filmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925 ein Denkmal gesetzt. Verschiedene Schlüsselszenen des Films spielen auf den potemkinschen Stufen. Der Film, der sich sehr frei an die tatsächlichen revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 anlehnt, gilt als einer der besten und einflussreichsten Filme aller Zeiten.

Gleich am oberen Ende der Treppe – ziemlich genau in der Mitte des Prymorskyi Boulevards – steht das Denkmal des  Herzogs von Richelieu. Er war von Zar Alexander I. 1803 zum Stadtoberhaupt und wenig später zum ersten Generalgouverneur der Region ernannt worden. Wegen seines Engagements für die Stadt gilt er als der eigentliche Gründer Odessas. Die Odessiten nennen ihn ganz vertraut und liebevoll einfach „Djuk“ , also „Herzog“.  Das Denkmal zeigt ihn in einer römischen Toga und einer Schriftrolle in der Hand mit Blick zum Meer, als begrüße er alle, die gerade im Hafen angekommen sind und sich auf den Weg in die Stadt machen – jedenfalls in Friedenszeiten. Jetzt, wo ständig mit russischen Angriffen zu rechnen ist, ist er mit Sandsäcken vor möglichen Bomben geschützt.

Hinter dem Denkmal beginnt das Stadtzentrum. Dazu heißt es in einem kleinen Aufsatz von Swetlana Tchertches: „Die Straßen verlaufen hier in regelmäßigen Quadranten und kreuzen sich im rechten Winkel. Alle Straßen im Stadtkern führen zum Meer. Diejenigen, die parallel verlaufen, führen zum Hafen. Also, je niedriger die Hausnummer, desto näher ist das Meer. Um gegen die sommerliche Hitze Schatten zu spenden, wurden die Straßen, die zum Strand führen, mit Akazien bepflanzt, und die Straßen zum Meer mit Platanen.“

Geht man am Denkmal des Herzogs den Prymorskyi Boulevards in westliche Richtung gelangt man nach kaum 300 Metern zum Gebäude der ehemaligen Kaufmannsbörse, einem neoklassizistisches Gebäude mit zwölf weißen Säulen an der Frontseite, das 1834 fertig gestellt wurde. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts befindet sich hier das Rathaus von Odessa. Seither heißt der Platz auch Dumskaya Platz, also Rathausplatz, doch wurde er jüngst in Börsenplatz umbenannt. Es ist der kleinste, aber vielleicht auch der schönste Platz Odessas. Hier feiern die Menschen gemeinsam das neue Jahr und eröffnen feierlich die Humorina.

Oberhalb der Säulen des Rathauses sind Uhren angebracht. Sie spielen die offizielle Hymne der Stadt aus der Operette „Die weiße Akazie“.  Jede halbe Stunde kann man ein kurzes Stück daraus hören und jede Stunde einen ganzen Vers:

Und in meinem Herzen bist Du überall bei mir, Odessa – meine Heimatstadt!

Unmittelbar vor dem Rathaus steht die Büste von Alexander Puschkin, die 1889 zum 50. Todestags des großen Dichters aufgestellt worden war. Sie erinnert daran, dass sich Alexander Puschkin 1823 und 1824  insgesamt 13 Monate in Odessa aufgehalten hatte. Sein Aufenthalt war nicht ganz freiwillig, denn er war wegen kritischer Verse, die gegen den Zaren gerichtet waren, nach Sibirien verbannt worden, durfte diese Zeit aber wegen der guten Verbindungen, die er besaß, in Odessa ableisten. Allerdings war er hier nicht überall wohlgelitten, jedenfalls nicht beim Generalgouverneur, dem Grafen Woronzow, dem die Zuneigung seiner jungen Frau zum großen Dichter offenkundig nicht behagte. So musste Puschkin Odessa verlassen und den Rest seiner Verbannung auf dem Landgut der Eltern verbringen. Aber er soll den Ring, den er von der Gräfen geschenkt bekam, bis zu seinem Tod getragen haben. Vielleicht ist das nur eine schöne Geschichte. Sicher ist, dass er während seiner Zeit in Odessa an seinem Roman „Eugen Onegin“ geschrieben hat. Dort heißt es:

Ich lebte damals im Getümmel Odessas, dieser staub´gen Stadt,
die viel Verkehr, viel heitern Himmel und einen lauten Hafen hat. 
Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte
Pulsiert das Leben leichtbeschwingt, Italiens hole Sprache klingt
Auf allen Straßen:hier Slowenen, dort Spanier, Frankreich, Griechenland
Hat reiche Kaufherrn hergesandt.
Armenier feilschen mit Rumänen, selbst aus Ägypten stellt sich dar, 
Held Mor-Ali, der Ex-Korsar.
Man bedenke: Das schrieb er 1825, also nur 30 Jahre nach der Stadtgründung.
Heute ist es ungewiss, ob sein Denkmal dort stehen bleiben darf, wo es jetzt steht. Denn seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine gibt es seitens der Ukraine nachdrückliche Bestrebungen den öffentlichen Raum auch vom kulturellen Einfluss Russlands zu befreien. Es bleibt abzuwarten, wann diese Bestrebungen auch das Puschkindenkmal betreffen werden.

Nicht weit vom Rathaus und dem Puschkindenkmal befinden sich auch das Archäologische Museum, das 1825 gegründet wurde und das  älteste Archäologische Museum der Ukraine ist. Es ist Ausstellungs- und Forschungseinrichtung und besitzt vor allem die größte Sammlung an archäologischen Funden zur antiken Geschichte der nördlichen Schwarzmeerküste. Am 23.Juni 2023 gab es auf dieses Museum und auf das benachbarte Literaturmuseum einen russischen Raketenangriff. Beide Museen wurden schwer beschädigt.

Geht man weiter Richtung Opernhaus, kommt man am „Ankerherz“ vorbei, einer rund 2 Meter hohen Skulptur, die mit der Aufschrift „Ich liebe Odessa“ versehen ist. Der in der Form eines Herzens gegossene Anker ist dem Wappen Odessas entlehnt, wo er in weißer Farbe auf rotem Grund dargestellt ist. Er ist nicht nur das für eine Hafenstadt typische Sinnbild der Seefahrer, sondern steht zugleich auch für Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht – in Herzform dargestellt auch für Liebe. Um die Verbundenheit mit seinen Partnerstädten zum Ausdruck zu bringen, hat Odessa 2019 damit begonnen, seinen Partnerstädten Kopien dieses Ankerherzens zu schenken. Mittlerweile stehen diese Ankerherzen u.a. in Genua, Marseille und in Regensburg. 

Noch ein paar Schritte zum großen Brunnen und schon steht man vor einem weiteren Wahrzeichen Odessas und zugleich ihrem größten Schmuckstück: dem Ende des 19. Jahrhunderts an der Stelle eines abgebrannten Vorgängerbaus nach dem Vorbild der Dresdner Semperoper errichteten Opernhaus. Offiziell heißt es: Nationales Akademisches Theater für Oper und Ballett“. In städtebaulicher Hinsicht – heißt es bei Wikipedia – „stellt das Opernhaus die Stadtkrone von Odessa dar“.

 

Das Theater wurde in drei Baustilen erbaut: Wiener Barock, italienische Renaissance und französisches Rokoko. Beim letzten Umbau wurden 7,5 kg Blattgold verarbeitet, was genügt hätte, um eine Fläche von 4 Quadratmeter abzudecken. Im Mittelpunkt des Opernhauses befindet sich der hufeisenförmige Zuschauerraum, der im Stil des französischen Rokoko gebaut ist und Platz für 1635 Personen bietet. In der Mitte des Saales  – so steht es in einem 2023 erschienen Artikel von Christina Butko – „schwebt der größte Theaterleuchter der Welt. Er ist 9 Meter hoch und hat einen Durchmesser von 4 Metern. Er verfügt über 214 Glühbirnen und 800 Kristalle.“  Noch beeindruckender als der Kronleuchter ist die vielgerühmte Akustik des Saales, die jedes Flüstern und jeden Ton auf der Bühne in jede Ecke des Saales trägt. Es verwundert nicht, dass hier die Größten unter den Großen zu Gast waren: Hier dirigierten Tschaikowski, List und Rachmaninow, auch Anton Rubinstein und Rimski-Korsakow. Hier tanzte aber auch Anna Pawlowa, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

 

Nicht selten musste die Oper schließen. Mal brannte es, mal drohte die Statik zu versagen und dann kam der Krieg. In den ersten Kriegsmonaten wurde die Oper geschlossen, dann aber wieder geöffnet. Seither sind Orchester und Ballett wieder im Einsatz. Aber regelmäig werden Proben und Aufführungen unterbrochen: Luftalarm! Dann müssen alle in den Schutzkeller. Damit dort – auch für das Publikum – genug Platz ist, dürfen zur Zeit nur 400 Gäste kommen, obwohl die Oper Platz für weitaus mehr Personen hat. So behilft man sich und spielt zu weilen draußen, auch Verdis Oper „Nabucco“.  In einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks heißt es : „Flieg Gedanken auf goldenen Schwingen…Das Lied, das auch als Verdis Gefangenenchor oder Freiheitschor bekannt ist, soll die Bitte in die Welt hinaustragen, den Himmel über der Ukraine zu schützen.“ Übrigens steht die Verdi-Oper derzeit wieder auf dem Spielplan.

Nur eine Straßenkreuzung weiter kommt man zu einem der schönsten Plätze Odessas, der zugleich am häufigsten seinen Namen gewechselt hat. Anfangs hieß er Katharienenplatz, weil hier die Militärkirche der Heiligen Katharina gebaut und später – zum einhundertjährigen Bestehen der Stadt – ein Denkmal der Stadtgründerin  Katharina der Großen errichtet wurde. Als sich die Sowjetmacht etabliert hatte, wurde der Platz in Karl Marx-Platz umbenannt und anstelle des Katharinendenkmals ein Denkmal für Karl Marx, später für Wladimir  Iljitsch Lenin aufgestellt. Während der Besatzungszeit gab es kein Denkmal mehr, aber der Platz hieß jetzt Adolf Hitler-Platz. Aber auch diese Zeit ging vorbei, und es kam ein neues Denkmal: das für die Potemkin-Matrosen, das an die Meuterei des gleichnamigen Schlachtschiffs erinnern sollte. 2007 entschied sich der Stadtrat doch wieder ein Denkmal für Katharina die Große aufzustellen und dabei Originalteile des 90 Jahre zuvor demontierten Denkmals zu verwenden, das bis dahin im Hof des Geschichts- und Heimatkundemuseum aufbewahrt worden war. So stand dann wieder ein Denkmal der Stadtgründerin auf dem Platz, der jetzt auch wieder ihren Namen trug.

Aber mit der Erinnerung ist das so eine Sache. Denkmäler leben gefährlich, wenn man sich nicht mehr erinnern möchte. Und so erging es Katharina der Großen, als Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Die Odessiten wollten die alte russische Kaiserin nicht mehr sehen. Jetzt sahen viele in ihr weniger die Gründerin der Stadt, als eine Herrscherin, die das ukrainische Volk unterdrückt habe, etwa weil sie den Gebrauch der ukrainische Sprache beschränkt hatte. So wurde das Denkmal zunehmend Ziel von Vandalismus, bis es von einem 7 Meter hohen Zaun umgeben wurde. Nach langem hin und her, einigen Petitionen und öffentlichen Diskussionen beschloss der Stadtrat von Odessa, das Denkmal abzubauen und im Hof des Nationalen Kunstmuseums zu lagern, was dann im Dezember 2022 auch geschehen ist. Die Demontage kommentierte das örtliche Internetportal mit den Worten „Tod den russischen Okkupanten“.

Allerdings fand Katharina die Große auch hier keine Ruhe. In der Nacht zum 5. November 2023 schlug eine russische Rakete in unmittelbarer Nähe des Kunstmuseum ein und beschädigte das Gebäude schwer, das ebenfalls zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und mehr als 10 000 Kunstwerke beherbergt. Der Angriff ereignete sich nur wenige Stunden vor den Feierlichkeiten zum 124-jährigen Bestehen des Museums. 
Der Katharienenplatz verlor aber nicht nur sein Katharienendenkmal, sondern – wieder einmal – seinen Namen.  Am 24. April wurde er im Bemühen, russische Spuren und Folgen des sowjetischen Imperialismus zu beseitigen, umbenannt. Jetzt heißt der unverändert schöne Platz „Europaplatz.“

Von dem in Europaplatz unbenannten Katharienenplatz ist es nicht mehr weit zum Falz-Fein-Haus, einem der – wie es heißt – vier schönsten Gebäude Odessas, das 1900/1901 von dem deutsch-russischen Großgrundbesitzer und Begründer eines UNESCO-Naturschutzgebietes Friedrich von Falz-Fein errichtet worden war und aus einem Herren-und einem Mietshaus besteht. Das Jugendstilgebäude hat eine reich verzierte Fassade,die mit Terrakottafliesen verkleidet ist. Sein Erkennungsmerkmal ist aber die Skulptur von zwei Atlasfiguren, welche die Weltkugel auf ihren Schultern tragen und dem Haus seinen Namen geben: „das „Zwei-Atlanten-Haus“.

Nur fünf Minuten Fußweg ist es zum Woronzow Palast, dessen Besuch uns wieder zum Prymorskyi Boulevard und damit an den Ausgangspunkt unseres Stadtrundgangs führt. Der Schlosskomplex ist nach dem Fürsten Michail Woronzow benannt, dem Bau- und Schlossherrn. Er war ein russischer Generalfeldmarschall mit liberalen Ideen, die er auch vertrat, als er 1823 als Generalgouverneur nach Odessa kam. In seiner Amtszeit wuchs die Bevölkerung u.a. auch deshalb, weil er entflohene Leibeigene nicht verfolgte, sondern es zuließ, dass sie sich ansiedelten.

Der Palast wurde zwischen 1827 und 1830 erbaut und zwar auf einer Anhöhe, an der Stelle, an der sich früher die türkische Festung Hajbey – ein Vorläufer Odessas – befand. Einst war es ein Prachtbau mit edlen Hölzern und dekorativen Wandmalereien, mit einem Säulengang und zwei Medici Löwen am Haupteingang. Brände und mangelhafte Pflege haben ihn in Mitleidenschaft gezogen. Der Palast steht unter Denkmalschutz. Er wird zur Zeit wiedereinmal renoviert und ist deshalb für Besucher nicht zugänglich.

Schließt man den Rundgang an dieser Stelle ab, wird man nicht umhinkommen, an einem anderen Tag eine zweiten Rundgang zu machen. Denn die Baudenkmäler und Sehenswürdigkeiten Odessas beschränken sich nicht auf weltliche Gebäude. Ganz im Gegenteil. Es gibt einige besonders hervorzuhebende sakrale Gebäude, Kirchen und Synagogen. Dies entspricht den in Odessa vertretenen Religionen. Die Mehrzahl der Odissiten ist christlich-orthodox. Daneben gibt es auch einen Bischofssitz der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine. Seit 2202 außerdem den Sitz eines römisch-katholischen Bischofs und schließlich auch eine lebendige jüdische Gemeinde.

Man muss diese zum Teil außerhalb des Zentrums liegenden Kirchen nicht zu Fuß erkunden. Bequemer ist es die Straßenbahnen zu nutzen, die es seit 1910 in Odessa gibt. Ein U-Bahn Netz gibt es dagegen nicht. Das verhindern die Katakomben, die unter der Stadt verlaufen, ein 2.600 km langes Tunnelsystem, das entstand, als man die Stadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts baute.

Hauptkirche für die griechisch-orthodoxe Gemeinde ist die 1808 geweihte und 1824 fertig gestellte Verklärungsskathedrale. Sie gilt als ein Meisterwerk christlicher Architektur und als wichtigstes geistliches Symbol der Stadt. Ihr 80 Meter hohe Glockenturm war vom Meer aus früher sichtbar als die Stadt und diente deshalb nicht nur in religiöser Hinsicht als Leuchtturm. 1903 war die Kathedrale mit 90 x 45 Metern eine der größten Kirchenbauten im russischen Reich. Sie fasste bis zu 9000 Menschen. Zu Stalins Zeiten wurde die Kathedrale geschlossen und dann zerstört.

1999 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, der 2010 abgeschlossen wurde. Es war eine originalgetreue Rekonstruktion der ersten Kirche. Nur die neue Glocke war noch größer als die alte. Sie gilt als die größte Glocke der Ukraine. Gesegnet wurde sie vom Patriarchen Kirill I., der wenige Jahre später die russischen Panzer, Raketen und Soldaten segnete. Sie waren dafür verantwortlich, dass am 23. Juli 2023 Raketen die Verklärungskathedrale trafen und schwer beschädigten. Auf den im Internet verbreiteten Fotos sieht man eingestürzte Kuppeln und Dachteile, den zerstörten Hauptaltar und wertvolle Ikonen. Getroffen wurde aber nicht nur eine Kathedrale, sondern auch ein Gotteshaus, das von der UNESCO gerade zum Weltkulturerbe erklärt worden war.

Zur Zeit ist man schon wieder dabei, Spenden für den Wiederaufbau zu sammeln und die schlimmsten Schäden notdürftig zu reparieren. Es finden auch schon wieder Gottesdienste statt. Aber es gibt den schlimmen Verdacht, dass die Gelder an das Patriarchat von Moskau fließen, und in russischer Sprache keine Gebete gesprochen werden, sondern russische Propaganda betrieben wird. Denn die ukrainisch-orthodoxe Kirche hat sich zwar am 27. Mai 2022 offiziell vom Moskauer Patriarchat gelöst, dies aber offenbar nicht klar kommuniziert und auch nicht durchgesetzt. So orientieren sich immer noch viele Priester und Gläubige in der Ukraine, speziell in Odessa, am Moskauer Patriarchen und Putinfreund Kyrill I.

Geht man ein paar Straßenzüge weiter, gelangt man in weniger als 10 Minuten zur St. Pauls Kirche, und damit zum Sitz des Bischofs der „Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine“. Sie hat ihre Anfänge und Wurzeln in den ersten deutschen Siedlern, die in die neu gegründete Stadt kamen, einige hundert deutsche Handwerker und Bauern aus Süd- und Südwestdeutschland. 1801 feierten sie ihre ersten lutherischen Gottesdienste. Bis zum ersten Gotteshaus dauerte es aber noch. Erst 1827 wurde auf dem höchsten Platz der Stadt die lutherische St. Paul Kirche errichtet. Ein einfacher, großer klassizistischer Bau, um den herum sich Bildungseinrichtungen, ein Waisen- und Armenhaus und schließlich sogar ein evangelisches Krankenhaus gruppierten. Als die Gemeinde weiter wuchs, wurde die alte Kirche 1897 im neuromanischen Stil überwiegend neugebaut und zugleich erweitert. Jetzt bot sie Platz für 1.200 Gläubige.

Nach der Oktoberrevolution wurde die Kirche als Fernsehstudio und Turnhalle zweckentfremdet und verfiel. Nur knapp entging sie damals der Sprengung. 1976 brannte sie schließlich völlig aus. Brandstiftung wurde als Ursache vermutet. Erst 2005 begann man wieder mit dem Bau eines neuen Gotteshauses, der 2010 abgeschlossen wurde. In der Breite entsprach die Kirche ihrer Vorgängerin, aber sie wurde kürzer, weil man auf die Aspsis verzichtete, an deren Stelle ein großer Bürobau trat. Auch im Innern wurde alles neugestaltet. Der württembergische Künstler Tobias Kammerer trug dafür die Verantwortung. Glasfenster, Deckenbemalung, Kanzel, Taufstein und Altar, Kerzenleuchter und Andachtsecke wurden von ihm entworfen und zum Teil auch selbst gefertigt. Im Bayerische Rundfunk hieß es in der Berichterstattung über den Eröffnungsgottesdienst, der im Beisein des Deutschen Botschafters und des Bürgermeisters von Odessa am 16. April 2010 stattfand, es sei eine der schönsten evangelischen Kirchen entstanden.

Natürlich wurde auch darauf hingewiesen, dass ein Großteil des für den Neubau erforderlichen Geldes aus Bayern gekommen sei, so wie die gebrauchte Orgel aus der Nürnberger Kreuzkirche stamme. Die Bänke stammten übrigens aus der Augsburger St.Ulrich Kirche und die beiden großen barocken Figuren Petrus und Paulus aus dem Regensburger Diözesanmuseum. Die große Glocke stiftete die Stadt Regensburg, die Partnerstadt von Odessa, unter deren Dach auch eine Partnerschaft zwischen dem Dekanat Regensburg und der Gemeinde Odessa besteht. Tobias Kammerer blieb der St. Paul Gemeinde treu. Als es darum ging, ein neues Altarbild mit einem Nagelkreuz im Altarbereich anzubringen, schuf er dies und zwar so wie von der Gemeinde gewünscht: mit der Aufschrift „Vater Vergib“ in Ukrainisch und in Deutsch. Diese Inschrift wird als Zeichen in Kriegszeiten verstanden, sicherlich auch dann, wenn die Sirenen heulen und alle in den Keller müssen – bis die Gefahr erst einmal vorbei ist.

Wo befinden sich in Odessa die Synagogen, die Gebetshäuser der Juden? Das ist doch eine berechtigte Frage für eine Stadt in der vor 100 Jahren noch 200.000 bis 300.000 Juden gelebt haben. Damals gab es in Odessa sieben Synagogen und 49 Gebetshäuser, nach anderen Quellen waren es 70 Synagogen und kleinere Gebetshäuser. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Nach der letzte letzten Volkszählung sind es offiziell nur noch ein paar Tausend Juden, die hier leben. Da sich aber nicht alle öffentlich zu ihrem Glauben bekennen, sind es wohl mehr. Manche schätzen, dass es vor dem russischen Einmarsch noch 45.000 Juden waren, die in der Stadt lebten. Aber auch dann stellt sich die Frage, wo beten sie? Wo sind ihre Gotteshäuser?

Mit dem Weggang von zehntausenden von Juden wurden auch viele Synagogen aufgegeben, u.a. die zwischen 1863-1868 im neugotischen Stil von Juden aus dem galizischen Brody gebaute, zweistöckige Brodsky-Synagoge, die mit ihren harmonischen Proportionen, Bogenfenstern, Spitzbogengewölben und achteckigen Türmen vielen als eine der schönsten Synagogen galt. Sie hatte die jüdische Aufklärung nach Odessa gebracht und mit ihr viele wichtige jüdische Familien. Aber sie wurde 1925 geschlossen und in ein staatliches Archiv umgewandelt. In seinem Inneren ist das Gebäude in einem sehr traurigen Zustand und die wenigen, die es sich noch von Außen ansehen, berichten davon, dass sich das Gebäude und das dazugehörende Grundstück in einem vernachlässigten und ungepflegten Zustand befänden. 2016 wurde das Gebäude an die jüdische Gemeinde zurückgegeben, wird aber immer noch als Archiv genutzt.

Die Hauptsynagoge in Odessa ist die Große Choral-Synagoge. Sie wurde zwischen 1850  und 1855 nach einem Brand, der ein früheres Gebäude aus dem Jahre 1790 zerstört hatte, errichtet. Das Besondere an Choral-Synagogen ist u.a., dass dort der Gottesdienst von einem Chor mit einem ausgebildetem Kantor begleitet wird. Man sieht es der Synagoge, die in Sowjetzeiten als Naturkundemuseum und Turnhalle zweckentfremdet worden war, auch heute noch an, dass sie in alten Zeiten eine prachtvolle Residenz berühmter Kantore war. Heute ist sie ein religiöses, kulturelles und pädagogischen Zentrum der Gemeinde, das sich im Zentrum der Stadt, nahe am Meer befindet. Sie steht unter Denkmalschutz und zählt immer noch zu den bedeutendsten Synagogen der Ukraine.

Wenn wir wieder zurück zur Potemkinschen Treppe gehen, benötigen wir 15 Minuten zu Fuß. Unterwegs können wir noch eine kurze Rast im Stadtgarten machen, dem ältesten Park der Stadt, der bereits kurz nach der Gründung der Stadt angelegt worden war. Seit über zwei Jahrhunderten ist er mit den schönsten und stattlichsten Bäumen der Stadt Mittelpunkt des Straßenlebens im alten Zentrum. Ursprünglich war er den Schönen und Reichen der Stadt vorbehalten, heute tummel sich hier die Künstler und Lebenskünstler. An Wochenenden spielt dort ein Orchester und die Leute tanzen.

  1. Hier im Stadtgarten steht auch ein mächtiger bronzener Stuhl. Er erinnert an einen Schelmenroman aus dem nachrevolutionären Russland, in dem es um Brillanten geht, die in „Zwölf Stühlen“ eingenäht wurden, entsprechend dem gleichnamigen Roman zweier sowjetischer Schriftsteller. In diesem Roman geht es um ein Gaunerduo und um das Überleben in chaotischen Zeiten. Es ist auch eine Hommage an Odessa, die Stadt, die bei aller Trübsal, bei aller Gewalt, auch immer etwas Leichtes, Optimistisches, aber auch Doppelbödiges ausstrahlt. So steht es in einem alten Artikel der TAZ vom 12.5.2016. Es scheint so, als hätte sich daran auch in Kriegszeiten nichts geändert.