Warum Odessa als Partnerstadt

„Städtepartnerschaften werden in der Regel durch die Vergleichbarkeit der Größe, infrastrukturelle Voraussetzungen sowie Besonderheiten einer Kommune bedingt, die Mainz entsprechen.“ So formulierte es Oberbürgermeister Nino Haase vor einiger Zeit.
Wird Odessa diesem Maßstab gerecht? Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Denn Odessa ist eine Millionenstadt, Mainz hat dagegen nur gut 200 000 Einwohner. Odessa ist also mehr als 4 Mal so groß wie Mainz. Odessa ist eine vergleichsweise junge Stadt, gerade einmal 270 Jahre alt. Mainz ist dagegen eine Stadt mit langer Geschichte, älter als 2000 Jahre. Mainz lebt seit rund 80 Jahren im Frieden, Odessa dagegen seit dem 24. Februar 2022 im Krieg. Das sind große Unterschiede. Zu groß für eine Städtepartnerschaft?
Keineswegs. Zwischen Mainz und Odessa gibt es viele Gemeinsamkeiten.

Zu den Gemeinsamkeiten gehört vor allem, dass beide Regionen Schmelztiegel vieler Kulturen, Sprachen, Religionen und Werte waren und sind. Es sind multikulturelle Städte, europäische Städte. Und so wie Odessa mit dem größten Hafen des Landes immer eine multiethnische Metropole, eine kosmopolitische Stadt war, so war und ist der Rhein mit Mainz die „Kelter Europas“, die „große Völkermühle“, wie Carl Zuckmayer die Region beschrieben hat.

Beide Städte waren Zentren des jüdischen Lebens, Mainz schon im 11. Jahrhundert, dann ab dem frühen 13. Jahrhundert als eine drei SchUM-Städte, deren Bedeutung der große jüdische Gelehrte Isaak Or Sarua folgendermaßen umschrieb: „Wie sehr gehören unsere Lehrer in Mainz, in Worms und in Speyer zu den Gelehrtesten der Gelehrten…Von dort geht die Lehre aus für ganz Israel…Seit den Tagen ihrer Gründung richteten sich alle Gemeinden nach ihnen, am Rhein und im ganzen Land Aschkenas.“ Diese Glanzzeit ist aber eingebettet in zahllose Pogrome, denen oft die Mehrzahl der in Mainz lebenden Juden zum Opfer fielen: vor allem 1096 und 1356, später in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November. Und schließlich während der Nazizeit, als mehr als 1300 Mainzer Juden in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Bei Kriegsende lebten noch 61 Juden in der Stadt. Heute besteht die jüdische Gemeinde in Mainz aus rund 1000 Mitgliedern, von denen auch einige aus Odessa stammen.

Die jüdische Geschichte Odessas ist vergleichbar mit jener in Mainz. Die Einwohner der Stadt bestanden seit ihrer Gründung zum großen Teil aus Juden. Ende des 19. Jahrhunderts betrug der jüdische Bevölkerungsteil über 30%, was rund 125 000 Personen entsprach. 1939 lebten schließlich rund 200 000 Juden in der Stadt. Das entspricht ungefähr der heutigen Größe von Mainz. Immer wieder kam es auch in Odessa zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung, so bereits 1821, 1859 und 1881. Infolge der ständigen Pogrome entstand in Osteuropa die Zionistische Bewegung, deren Ziel die Auswanderung der Juden nach Palästina war, also die Rückführung der in aller Welt lebenden Juden in das Gebiet, das für die Zionisten das ursprüngliche Heimatland der Juden war, wo sie einen eigenen Staat gründen wollten. Odessa, das ohnehin bereits ein Zentrum der jiddischen Kultur geworden war, wurde so auch zu einem Zentrum der zionistischen Bewegung und zum Gründungsort der frühen jüdischen Arbeiterbewegung. 1904 entstand hier die Zionistische Sozialistische Arbeiterpartei, der auch der spätere Mitbegründer und erste Bürgermeister von Tel Aviv, Meir Dizengoff, angehörte. Die größte Katastrophe stand den jüdischen Bewohnern aber noch bevor. 1941 kam es zum Massaker von Odessa, dem zwischen 25 000 und 34 000 jüdische Menschen zum Opfer fielen. Sie wurden vor den Augen der Stadtbewohner erschossen oder bei lebendigem Leibe verbrannt, von rumänischen Soldaten mit Billigung und Unterstützung deutscher Truppen. Viele Juden, die das Massaker überlebten wurden später noch in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Wie viele Juden heute noch in Odessa leben, ist unklar. Die Schätzungen reichen von 5000 bis rund 40 000 Personen.

Hauptsynagoge Odessa
Neue Synagoge Mainz

Odessa und Mainz verbinden auch ihre Fähigkeiten zur Innovation und ihr Potential für neue Entwicklungen. Was Mainz anbelangt, ist damit natürlich in erster Linie Johannes Gutenberg, den Erfinder der Buchdruckkunst, gemeint. Aber das betrifft die alte Zeit. In unserer Zeit haben sich Mainz zu einem biotechnologischen Zentrum entwickelt und Odessa zu einem Zentrum der IT-Technologie. Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine waren 10 500 Technologiespezialisten und 150 Tech-Firmen in Odessa zu Hause. Seit Kriegsbeginn haben sich diese Zahlen signifikant erhöht, weil viele Firmen und noch mehr Mitarbeiter vor allem aus Kyjiv und Lviv nach Odessa gewechselt sind. Deshalb ist auch davon die Rede, dass sich Odessa auf dem Weg zum „Technologie-Hub Nummer 1 der Ukraine“ befindet. Mainz dagegen befindet sich auf dem Weg zu einem Biotechnologiestandort mit internationalem Renommee. Viele Unternehmen, Institute und öffentliche Einrichtungen arbeiten in diesem Segment zusammen: die Universität, die Universitätsmedizin und vor allem das Unternehmen BioNtech. Die Stadt wiederum hat ein 50 Hektar großes Gelände ausgewiesen, um die Biotech-Standort auszubauen und weiterzuentwickeln.

Mainz ist mit Rheinhessen das größte Weinanbaugebiet Deutschlands und die Region („Oblast“) Odessa mit ihrer Hauptstadt Odessa das größte Anbaugebiet in der Ukraine. Eine weitere Gemeinsamkeit!
Die Region Odessa ist ein echtes Weinzentrum. Es umfasst rund 20 000 ha. Von 50 Weingüter wurden vor dem Krieg 130 Millionen Liter Wein produziert. Zu den bekanntesten Weingüter gehört das 1822 von Schweizer Auswanderern im gleichnamigen Dorf gegründete Weingut Shabo, dem eine faszinierenden Museum angeschlossen ist, das die Geschichte des Weinanbaus und des Weingutes vermittelt. Das Weingut produzierte vor dem Krieg jährlich mehr als 50 Millionen Flaschen, exportierte sie in 18 Länder und wird immer wieder mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Angebaut werden internationale, aber zunehmend auch heimische Weintrauben. Seit 2022 gibt es den Branchenverband „Wines of Ukraine“, in dem sich die Weingüter des Landes für internationale Geschäfte zusammenschließen. Aber der Krieg wirkt sich auch auf den Weinanbau aus. Die Weinberge und Weingüter werden von den Russen beschossen, einige wurden deshalb bereits verlassen. Winzer, Sommeliers und Händler kämpfen stattdessen an der Front. 
Viele Winzer sind mittlerweile Soldaten. Angesichts dieser bitteren Lage fällt es schwer auf die heile Welt von Mainz, einem der „Great Wine Capitals“ umzuschalten, einem internationalen Netzwerk von derzeit zwölf bedeutenden Großstädten, dem Mainz seit 16 Jahren angehört. Mainz ist zugleich die offizielle Weinhauptstadt Deutschlands, das umgebende Rheinhessen mit seinen 3500 Winzerbetrieben ist mit rund 26 000 Hektar Deutschlands größtes Weinanbaugebiet. Hier wachsen zu 70% weiße Rebsorten – vor allem Riesling, die weißen Burgundersorten und der Silvaner. Bei den Roten dominieren Dornfelder und Spätburgunder. Man kauft die Weine bei den Winzern vor Ort, trinkt sie in den zahllosen Weinstuben oder oder genießt sie auf den zwischen August und Oktober überall in Mainz und Umgebung stattfinden Weinfesten.

Mainz ist eine der Hochburgen des Karnevals in Deutschland, den man hier seit alters her Fastnacht nennt, genauer: Fassenacht. Es ist die „fünfte Jahreszeit“, in der zwischen November und Februar gefeiert wird, drinnen und draußen, mit Maskenbällen und Umzügen. Höhepunkt ist der Rosenmontag an dem sich Garden, Musikkapellen, Motivwagen und Fahnenträger in einem Umzug versammeln, der sich ab 10 Uhr vier Stunden lang von der Neustadt durch die Innenstadt von Mainz zieht. 1848 fand er zum ersten Mal statt. Seither hat er sich zu dem größten Mainzer Volksfest entwickelt, an dem bis zu 600 000 Mainzer und Auswärtige teilnehmen, das heißt: tanzen, singen und trinken bis kein Geld mehr im Portemonnaie ist, was am Mainzer Fastnachtsbrunnen durch den sogenannten Geldbeutelwäscher symbolisiert wird.

Odessa kennt nicht unsere Form des Karnevals und unserer Fassenacht. Aber sie ist die Hauptstadt des Humors – „stoliza jumora“ – in der Ukraine.

Zur sog. Humorina – dem 1973 in Leben gerufenen Fest des Lachens, des Humors und der Satire – kommen am 1. April jedes Jahr tausende von Touristen. Der Tag beginnt mit einem farbenfrohen Umzug und endet mit einem großen Feuerwerk. Dazwischen gibt es u.a. ein Festival des jüdischen Humors und ein internationales Clownfestival. Früher machte man sich bei dieser Gelegenheit auch über das altes sowjetische System lustig, was dazu führte, dass die Humorina zwischen 1976-1986 verboten wurde.

Die Humorina fiel in diesem Jahr dem Krieg zum Opfer. Aber gelacht wird weiter, auch in Kriegszeiten, wenn auch weniger laut, irgendwie sanfter, damit es weniger schmerzt.

CC-BY- Bundesarchiv
CC-BY- Bundesarchiv

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 60% von Mainz und 80% seiner Innenstadt zerstört und mussten wiederaufgebaut werden.

Das ging nur schleppend, dauerte lange und gelang nicht überall. Aber die Mainzer sammelten Erfahrungen mit dem Wiederaufbau und der Stadtsanierung. Erfahrungen, die jetzt vielleicht Odessa zugute kommen könnten. Denn auch hier haben die russischen Raketen- und Drohnenangriffe großen Schaden angerichtet.

Hunderte von Wohnhäuser wurden bisher zerstört, die Stromversorgung schwer beschädigt, auch die Hafeninfrastruktur und zahllose Museen. Selbst das historische Zentrum, das 2023 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, blieb nicht verschont. 29 Architekturdenkmäler wurden schwer getroffen, vor allem die 1808 eingeweihte Verklärungskathedrale, die größte orthodoxe Kirche und Wahrzeichen der Stadt.

Zerstörungen in der Verklärungskathedrale

Und noch ein letzter und besonders wichtiger Aspekt zur Begründung einer Städtepartnerschaft zwischen Mainz und Odessa. Für eine Städtepartnerschaft ist es nicht unbedingt entscheidend, ob sich die Partnerstädte in wichtigen Parametern ähnlich sind. Zuweilen stehen ganz andere Gesichtspunkte im Mittelpunkt. Etwa die Unterstützung in einem demokratischen Transformationsprozess und die Aufnahme Kroatiens in die EU wie im Falle Zagrebs, Förderung der Aussöhnung wie im Falle von Dijons, Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit wie im Falle Haifas. In diesen und in anderen Fällen ist und war die Begründung einer Städtepartnerschaft immer auch ein politisches Projekt. Und so ist es auch im Falle Odessas. Es geht um die Solidarität mit einer Stadt und ihren Einwohnern, die sich im Krieg befinden, die Hilfe benötigen und eine Perspektive, nicht nur was den Frieden betrifft, sondern auch die Zukunft in der Europäischen Union. Das sind die wichtigsten Gründe für eine Städtepartnerschaft mit Odessa, der Frontstadt am Schwarzen Meer.