Wie das Judentum Odessa prägte – und wie die Juden immer wieder verfolgt wurden
Odessa war einst die vielleicht am stärksten vom Judentum geprägte Stadt weltweit. Der russische Zensus von 1897 ergab einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 31 Prozent in der von Katharina der Großen rund einhundert Jahre zuvor gegründeten Hafen- und Handelsstadt am Schwarzen Meer. Mit diesen Zahlen machte Prof. Anke Hilbrenner gleich zu Beginn ihres spannenden Vortragsabends im rheinland-pfälzischen Landtag die Bedeutung des jüdischen Lebens für die Geschicke der neuen Mainzer Partnerstadt deutlich. Eine Stadt, die über viele Jahrzehnte mit einer ganzen Reihe von Pogromen zugleich immer wieder zum Schicksal für ihre jüdischen Bürger wurde.
Singulär war auch in Odessa die Vernichtung der Juden durch den nationalsozialistischen Rassenwahn. Die rumänischen Verbündeten der Nazis, denen die Kontrolle über Odessa oblag, setzten die Judenvernichtung nicht weniger unerbittlich ins Werk als an anderen Orten in Osteuropa die Nazis selbst, berichtete die Osteuropahistorikerin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Deutsche Volksgruppen in der seit jeher multiethnisch geprägten Stadt hätten sich willfährig daran beteiligt. Wieviele odessitische Juden im Holocaust ums Leben gekommen seien, könne allerdings nicht beziffert werden. Ein großer Teil der Juden sei vor der Besetzungsherrschaft durch die Deutschen und Rumänen aus Odessa geflüchtet.
Mehr als 150 Gäste waren der gemeinsamen Einladung des Landtages und des Städtepartnerschaftsvereins Mainz – Odessa gefolgt. Das Rund des Plenums und die Zuschauerempore waren fast komplett gefüllt. Anke Hilbrenner brachte ihnen unter dem Titel „Pogrome und Politik“ die wechselvolle Geschichte der Juden in Odessa nahe: Als Händler und Treiber der Stadtentwicklung, als geistige und kulturelle Elite in einem vom Mammon geprägten osteuropäischen Eldorado und als immer wieder Verfolgte einer antisemitischen Seuche, die auch vor dem Zarenreich und dem Stalinismus nicht Halt machte.
Als „Zeit der Pogrome“ benannte Hilbrenner die Jahre von 1871 bis zum Ersten Weltkrieg und dem unmittelbar folgenden Bürgerkrieg zum revolutionären Umsturz der Bolschewiken. 1871 habe es die erste antijüdische Gewaltwelle gegeben, die stark von antisemitisch getriebenem Neid und Plünderungen geprägt gewesen sei. Zehn Jahre später folgte bereits die zweite, in der die Juden schon stärker persönlich angegriffen wurden und bei mehreren Verfolgungswellen um Leib und Leben fürchten mussten. Nach diesen Massakern setzte eine erste Auswanderungswelle der Juden aus dem russischen Reich und insbesondere auch aus Odessa nach Westeuropa und Nordamerika ein. Im Ersten Weltkrieg und im Revolutionskrieg zwischen der Weißen und der Roten Armee seine die Juden dann erneut Opfer einer ganzen Welle von Pogromen geworden.
Hilbrenner rief in Erinnerung, dass sich mit den Pogromen des Jahres 1882 in Odessa erstmals zum Schutz der Juden eine „Autoemanziptationsbewegung“ gegründet habe. Sie sei ziemlich schlagkräftig gewesen. Odessa gelte zugleich als Wiege des Zionismus, nachdem als Erster der odessitische Intellektuelle Leo Pinsker unter dem Eindruck immer wiederkehrender Verfolgungswellen im Zarenreich die Idee zur Gründung eines jüdischen Staates propagierte. „So betrachtet kann man Odessa als eine der ersten Keimzellen zur Gründung des Staates Israel betrachten“, ordnete Hilbrenner die frühe Autoemanzipationsbewegung in Odessa ein.
Natürlich kam die Historikerin auch auf die literarische Bedeutung jüdischer Intellektueller aus Odessa zu sprechen – den Judenverfolgungen im Zarenreich und auch zur Zeit des Stalinismus zum Trotz. Isaak Babel gilt als ihr bedeutendster Vertreter. Sein Erzählband „Die Reiterarmee“ wurde zur literarischen Beschreibung des russischen Bürgerkriegs beim Übergang des vom im Ersten Weltkrieg geschwächten Zarenreichs zum blutigen Aufstieg des Bolschewismus. Mit seinen „Geschichten aus Odessa“ habe Babel, Sohn eines armen jüdischen Kleinhändlers, dann seiner Heimatstadt ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Aufstieg des Benja Krik vom Kleinkriminellen zum selbsternannten „König von Odessa“ sei in der Sowjetunion gleich mehrfach verfilmt worden. Babels jüdischer Witz stehe zugleich stellvertretend für den jüdischen Einfluss auf den singulären, schlitzohrigen Humor, der den Odessiten im Zarenreich, im Sowjetreich sowie auch heute in der Ukraine bescheinigt wird.
Text: Friedrich Roeingh
Einen weiteren Beitrag zum Judentum in Odessa finden Sie unter www.mainz-odessa.de/geschichte-odessas/
Fotos: © Landtag Rheinland-Pfalz





